Internationales Doktorandenkolleg Philologie
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PhD Project Simon Haffner

Karaite grammar(s) between hermeneutics and linguistics

Fach: Judaistik
Betreuer/innen: Prof. Dr. Ronny Vollandt (LMU), Prof. Dr. Miriam Goldstein (Hebrew University of Jerusalem)

Die Karäer sind eine jüdische Rechtsschule, die anders als die Rabbaniten die rabbinische Literatur (Mischna, Talmud, etc.) als Grundlage für die Rechtsauslegung nicht akzeptiert. Einzig der biblische Text gilt den Karäern als maßgebliche Quelle für halachische Bestimmungen – ihre Bezeichnung leitet sich vom hebräischen Verb qārā (lesen) ab. Unter dem Einfluss der Masoreten, auf die die noch heute gebräuchlichen Vokal- und Akzentzeichen zurückgehen, welche der Bewahrung der Aussprache und des Vortrages des biblischen Textesdienen, und der ausgehend von der Qurʾān-Exegese sich gleichzeitig entwickelnden muslimischen Grammatiktradition entwickeln die Karäer eigene Beschreibungen des Bibelhebräischen, die ihrerseits überwiegend auf Judäo-Arabisch verfasst sind.
Meine Dissertation beschäftigt sich insbesondere mit den Grammatiken, die im Umfeld der karäischen Akademie (dār al-ʿilm) im Jerusalem des zehnten und elften Jahrhunderts entstanden sind: Von ibn Nūḥ ist uns ein grammatischer Kommentar überliefert, der biblische Bücher Vers für Vers durchgeht und von ihm für schwierig befundene Wörter erklärt – seine Anmerkungen sind aber vor allem morphologischer, zuweilen auch phonetischer oder syntaktischer Natur. Exegetische Erklärungen dagegen sind rar gesät. Ibn Nūḥ, von seiner Terminologie und seinen Methoden als Vertreter der frühen karäischen Grammatiktradition ausgewiesen, deckt in seinem Diqduq genannten Werk somit vorrangig formale Aspekte der Sprache ab.
Sein Schüler und späterer Nachfolger als Leiter der karäischen Akademie, ʾAbū al-Faraj Hārūn ibn Faraj, hingegen markiert – der augenscheinlichen Kontinuität zum Trotz – einen Einschnitt: Sowohl in seiner Terminologie als auch in seinen Konzepten unterscheidet er sich deutlich von ibn Nūḥ, insbesondere aber in der Form: Sein ‚ausreichendes Buch über die hebräische Sprache‘ (al-Kitāb al-kāfī), das selbst eine Überarbeitung seines einige Jahre zuvor vollendeten ‚umfassenden Buches‘ (al-Kitāb al-muštamil ʿalā l-ʾuṣūl wa-l-fuṣūl fi-l-luġa al-ʾibrānīya) darstellt, ist eine Monographie, die für sich in Anspruch nimmt, die Grundlagen des biblischen Hebräisch in ausreichender Weise zu behandeln. Anders als ibn Nūḥ beschränkt sich ʾAbū al-Faraj Hārūn dabei nicht auf die Feststellung von strukturellen Ähnlichkeiten, sondern flicht sprachphilosophische Überlegungen und die explizite Thematisierung zeitgenössischer, linguistischer Theorien in seine Darstellung des biblischen Hebräisch ein.

Ausgehend von diesen Texten verfolge ich in meinem Dissertationsprojekt die Absicht, anhand dreier Leitlinien das Sprachdenken der Karäer im Umfeld des dār al-ʿilm unter besonderer Berücksichtigung der Grammatik darzustellen:
In einem ersten Schritt verfolge ich grundsätzliche Auffassungen der Karäer über Sprache. Dabei handelt es sich um Annahmen, die zwar zum Teil mithilfe der Grammatik begründet werden, aber weit über deren linguistischen Kern hinausgehen und in den Bereich anderer Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Recht ragen. Die Fragen nach dem Ursprung der Sprache, nach ihrer epistemologischen Beschaffenheit, ob sie göttlich geschaffen oder doch eine auf Übereinkunft beruhende, menschliche Erfindung ist, und dem Verhältnis von verschiedenen Sprachen zueinander lassen sich allenfalls bedingt mit den Mitteln der Grammatik beantworten. Sie definieren aber die Rahmenbedingungen, unter denen Sprache als System in den Blick genommen werden kann.
Im zweiten Schritt wende ich mich konkret der linguistischen Dimension meiner Quelle zu: Auf der Grundlage von ausgewählten Beispielen (die Rolle der Buchstaben bei der Analyse;Verbalflexion) will ich die Entwicklung innerhalb der karäischen Grammatiktradition im Vergleich zu nicht-karäischen, jüdischen und muslimischen Grammatiken nachzeichnen. Im dritten Schritt wende ich mich zwei Phänomenen zu, die im Kitāb al-kāfī behandelt werden, aber nicht mehr zur Morphologie, gewissermaßen dem Hauptstück karäischer Sprachwissenschaft, gehören: Taqdīr bezeichnet hierbei ein Konzept, das bei ʾAbū al-Faraj Hārūn insbesondere im Zusammenhang mit syntaktischen Fragestellungen vorkommt, majāz dagegen, ein im weitesten Sinne nicht wörtlich zu verstehender Ausdruck, schlägt die Brücke von der grammatischen Betrachtung in Richtung Rhetorik (und damit auch Exegese).

Mit diesen Leitlinien geht es mir darum, drei verschiedene Zugänge zu gewinnen, die dabei
helfen sollen, das zweifache Spannungsverhältnis dieser grammatischen Texte freizulegen: Zum einen schöpfen sie, vereinfacht gesprochen, aus zwei verschiedenen Traditionen, der jüdischen, die sowohl die Masora als auch rabbinische Literatur einschließt – aus der die Karäer durchaus Argumente zu übernehmen bereit sind, wenn sie ihnen plausibel erscheinen – und der islamischen. Zum anderen oszillieren diese grammatischen Texte zwischen ihrer Funktion als Deskription eines fixierten Korpus – der Bibel – einerseits und als hermeneutische Hilfestellung für das ‚richtige‘ Verstehen desselben andererseits, denn nur durch sorgfältiges, verstehendes Lesen könnten die göttlichen Gebote schließlich richtig befolgt werden.
Die Grammatik stellt somit als Disziplin das Feld dar, auf dem sich eine strukturbezogene Linguistik mit deutenden Wissensbereichen kreuzt.