Internationales Doktorandenkolleg Philologie
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Dissertationsprojekt Matthias Knallinger

Göttliches Wort und überlieferte Worte – Verstehen und Nicht-Verstehen bei der Tradierung des göttlichen Wortes in mittelhochdeutscher mystischer Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts [Arbeitstitel]


Fach: Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters
Betreuer/innen: Prof. Dr. Susanne Reichlin (LMU)

Der Umgang des Menschen mit einer Form von göttlicher Wahrheit, der er sich auszusetzen
hat, stellt ein häufiges Thema in christlich-mystischen Texten des Mittelalters dar. Im Zentrum
der Aufmerksamkeit steht hierbei nicht selten das Wort Gottes, das im mystischen Kontext ein vielschichtiges Problemfeld aufwirft: In Anschluss an den Beginn des Prologs im Johannesevangelium (Joh 1,1–5), in dem das göttliche Wort in Verbindung zum Schöpfungsgeschehen steht, wird dort das Verständnis des Wortes in der Seele des Menschen gleichbedeutend mit deren Vereinigung mit Gott. Zentrale Problemfelder sind in diesem mystischen Zusammenhang sodann die Umstände, die diese Empfängnis ermöglichen, die Position, die die Schöpfung gegenüber diesem gottgleichen Wort einnimmt oder die Frage, inwiefern der menschliche Intellekt das göttliche Wort erfassen kann.
Im Rahmen des Dissertationsprojekts untersuche ich die Bedeutung und Ausgestaltung der Theologie des Wortes für mystisch-spekulative mittelhochdeutsche Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Innerhalb dieses thematischen Rahmens ist in philologischer Hinsicht zwischen zwei Ebenen der Auseinandersetzung mit Texten zu unterscheiden:
So findet hier auf der einen Seite eine Form der Textrezeption statt, die bewusst Möglichkeiten der Wissensvermittlung und des Verstehens reflektiert. Das bedeutet, dass nicht nur inhaltliche Aspekte der Lehren dominikanischer Magister, bspw. Meister Eckharts, aufgegriffen werden, sondern darüber hinaus auch eine Reflexion über den besonderen Sprachgestus stattfindet, der für mystisch-theologische Prediger und DichterInnen des Mittelalters charakteristisch ist. Die für diese Rezeption zentralen Fragen lauten somit: Welche Wege haben ältere Texte gefunden, einer Form von göttlicher Wahrheit sprachlichen Ausdruck zu verleihen und wie können RezipientInnen von diesem sprachlichen Ausdruck wieder zur vermittelten göttlichen Wahrheit gelangen? Daran knüpft auf der anderen Seite die Ebene der eigenen Textproduktion an. Denn welcher Modus soll im Anschluss an diese Reflexion der geeignete sein, um von der rezipierten Vorlage ausgehend nun wiederum einem neuen Publikum das aufgegriffene Wissen zugänglich zu machen?
Vor diesem Hintergrund ist der Ausgangspunkt meiner Untersuchung die überlieferungsgeschichtliche Annahme, dass jeder mittelalterliche Text das Erzeugnis einer bestimmten, sich jeweils unterscheidenden kulturellen Praxis ist. Um ebenjene Praktiken zum Vorschein zu bringen, bezieht sich mein Dissertationsprojekt auf die Analyse der fünf mittelhochdeutschen Lieder Aus gotes herzen ein wort entsprang, Di element uns des veriehen, Ein meister der seit uns das wesen blos, Ich wil vch sagen mere und Ich wil von bloßheit singen neuwen sank.
Zentrale Parameter dieser Analyse sind textgeschichtliche Aspekte, Provenienz und Datierung des Überlieferungsträgers, liturgische Einflüsse oder der Gattungswechsel von Prosa zu Lyrik. Im Hinblick auf die Textgeschichte der zumeist unikal überlieferten Lieder zeigt sich eine bemerkenswerte textliche Offenheit. Diese wird z.B. in der mouvance einzelner Strophen oder Verse ersichtlich, die in ähnlicher Form in unterschiedlichen Liedern und damit in unterschiedlichen Kontexten Verwendung finden (Ein meister der seit uns das wesen blos). Auf diese Weise werden nicht nur intertextuelle Bezüge zwischen einzelnen Liedern offenkundig, sondern es lassen sich auch Verbindungen zu mystischer Traktatliteratur und Predigten herstellen, deren Terminologie und Formulierungen aufgegriffen werden. Deutlich wird so das große Interesse der VerfasserInnen und RezipientInnen an mystisch-theologischen Konzepten – wie bspw. der abegescheidenheit –, die ihnen aus anderen Texten unterschiedlichster Gattungen bekannt waren.
Anhand der Provenienz der Überlieferungsträger wiederum lassen sich die Lieder zumeist in ein Umfeld dominikanischer Frauenkonvente zurückverfolgen. Dabei lässt sich durch die Datierung derselben der etwaige Einfluss der Klosterreformen des 15. Jahrhunderts nachverfolgen (Di element uns des veriehen). Die zentrale Rolle, die der Liturgie für das Klosterleben innerhalb dieser Konvente zukommt, wirkt sich in der Folge auch auf die in diesem Kontext entstandenen Lieder aus. Von entscheidender Bedeutung kann bspw. das Sakrament der Eucharistie sein, auf das etwa das Lied Aus gotes herz ein wort entsprang anspielungsreich verweist. Nicht zuletzt der Wechsel der Gattung von zumeist prosaischen Texten wie Traktaten oder Predigten hin zur Lyrik, der im Übergang von Textrezeption zu -produktion stattfindet, gibt sowohl Aufschluss über die verschiedenen Rezeptionspraktiken mystischer Ideen als auch über die unterschiedlichen Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks, die den dominikanischen Frauen im Vergleich zu den Männern offenstanden.
Der skizzierte Ansatz erfordert genaues philologisches und diesbezüglich vor allem kodikologisches Arbeiten. Denn nur darüber sind jene Praktiken rekonstruierbar, die entscheidend für die inhaltliche wie formale Weiterentwicklung des mystisch-spekulativen Diskurses um die Theologie des Wortes sind. Sie können sowohl Aufschluss über die spezifische Form als auch über die inhaltliche Ausgestaltung der Lieder geben.
Die Untersuchung bietet in dieser Hinsicht insofern einen innovativen Ansatz, als die behandelten Lieder – im Gegensatz zum Großteil der bestehenden Forschung – auf inhaltlicher Ebene nicht lediglich aus der Perspektive Eckhart’scher scholastisch-mystischer Theologie wahrgenommen werden und ihnen auf formaler Ebene nicht etwa die Kunstfertigkeit des mittelhochdeutschen Minnesangs als Vergleichsfolie dient; vielmehr sollen sie als Produkte einer eigenen kulturellen Praxis verstanden werden, die zwar an bestehende Traditionen anknüpft, hierbei jedoch eigenständige Ausdrucksweisen findet.