Internationales Doktorandenkolleg Philologie
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Dissertationsprojekt Jonas Müller

Die Rolle Abrahams in der galatischen Auseinandersetzung


Fach: Neues Testament (Evangelische Theologie)
Betreuer/innnen: Prof. Dr. Loren T. Stuckenbruck (LMU), Prof. Dr. Jan Heilmann (LMU)

Das Promotionsprojekt untersucht die Rolle Abrahams in der galatischen Auseinandersetzung. Der Galaterbrief stellt den polemischsten Brief des Apostels Paulus dar, denn dieser sieht sich in Galatien seiner Darstellung nach mit einer gegnerischen Fraktion konfrontiert, die seine vorher dort eingeführten Lehren umzukehren droht. So steht gerade die paulinische Überzeugung der Ablehnung der Beschneidung von Nicht-Juden unter Beschuss. In seiner Argumentation gegen seine wohl jüdisch-christusgläubigen Gegner rekurriert Paulus überraschend im Hauptteil des Briefes (in den Kapiteln drei und vier) auf die Figur des alttestamentlichen Patriarchen Abraham. In der Forschungsgeschichte wurde die Einführung des Patriarchen in die Argumentation aufgrund der Verbindung Abrahams mit dem Beschneidungsbund (Gen 17) als eigentlich unvorteilhaft für das Ziel des Briefes bewertet. Als Grund für die Hinweise auf Abraham nahm man an, dass Paulus sich damit auf die Predigt seiner Gegner und deren Verwendung von Abraham beziehe. Zugleich postulierte man, Paulus liefere im Galaterbrief eine ganz eigene Interpretation des Erzvaters, indem er nicht nur Jesus als eigentlichen Nachkommen desselben modelliere, sondern auch die nicht-jüdischen Galater als Abrahams Samen verstehe. Eine Argumentation, die wohl kein Jude annehmen könnte.
In der Dissertationsschrift wird dieser Forschungskonsens einer Prüfung unterzogen, indem erneut die Frage nach der Rolle Abrahams in der galatischen Auseinandersetzung aufgeworfen wird. Die Annahme einer rein passiven Rezeption Abrahams bei Paulus wird kritisiert und stattdessen die These einer selbstständigen Einführung Abrahams entwickelt, die sich anhand von anderen frühjüdischen Verwendungen dieser Figur plausibilisieren lässt.

Methodologisch wird dabei in zwei großen Teilschritten verfahren. Zunächst soll anhand einer syntaktisch-semantischen Analyse der auf Abraham bezogenen Argumentation geklärt werden, wie wahrscheinlich eine Rückführung der Figur auf eine gegnerische Predigt ist. Dabei wird zunächst ein vorläufiges Profil der Gegner und ihrer Überzeugungen aus den Aussagen des Briefes erhoben. Da keine weiteren Quellen zu dieser Auseinandersetzung existieren, gilt es im Hinblick auf eine Überinterpretation der entsprechenden Stellen besonders vorsichtig zu sein. Sodann wird die Kohärenz der Argumentation geprüft, da diese als Kernargument für eine Rückführung Abrahams auf die gegnerische Predigt gilt.
In einem zweiten Schritt wird die Argumentation des Paulus in den Kontext des frühjüdischen Diskurses über Abraham gestellt. Denn Abraham war nicht nur für Paulus eine attraktive Figur, sondern erscheint in verschiedenen Schriften vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. als zentrales Interesse von jüdischen Schreibern und Philosophen. Da sich Auslegungen des Galaterbriefes oft zu unmittelbar auf Gen 17 konzentrieren, soll in dieser Untersuchung nach kontemporären Interpretationen Abrahams gefragt werden, die, auch ohne direkte Einflussnahmen zu postulieren, wichtige Einsichten für die Rezeption der Figur bei Paulus liefern können. Der Fokus liegt dabei besonders auf den Interpretationen des Patriarchen im Jubiläenbuch, dem 1. Henochbuch und beim alexandrinischen Juden Philon. Darüber hinaus werden auch das Sirachbuch, die Fragmente jüdischer Historiker, die in Qumran gefundenen Fragmente des Genesis Apokryphons und 4Q225, der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der Liber Antiquitatum Biblicarum und die Apokalypsen des Baruch und Ezra untersucht. Auf diese Weise lässt sich die paulinische Argumentation mit zeitgenössischen Interpretationen Abrahams vergleichen, die, wie zu sehen ist, oft vom biblischen Text abweichen und kreativ mit diesem umgehen. Die aus diesen früh-jüdischen Texten gewonnene Struktur ermöglicht es, die Argumentation des Paulus innerhalb dieses frühjüdischen Diskurses zu verstehen und so auch seine eigenständige Verwendung des Erzvaters zu plausibilisieren. Der zweite Schritt dieser Untersuchung eröffnet also eine neue Perspektive auf die Auseinandersetzung in Galatien und bietet eine alternative Erklärung und Interpretation der paulinischen Argumentation zu Abraham.
Das Projekt umfasst überdies eine editionsphilologische Komponente, welche auf das bereits genannte Jubiläenbuch gerichtet ist. In den letzten Jahrzehnten sind der Forschung neue Manuskripte dieses Buches zugänglich gemacht worden, die textgeschichtlich nicht nur aufgrund ihres hohen Alters von großer Bedeutung sind. Es wurden daher drei in den bisherigen Editionen nicht beachtete Manuskripte (EMML 9001, IES 392, Gunda Gunde 162) mit einem weiteren Manuskript (EMML 207) um Tanna 9 für den Textbereich der Erzählung von Abraham im Jubiläenbuch (Jub. 11,1-23,32) kollationiert. Dabei wurden auch die hebräischen Fragmente vom Toten Meer, die als älteste Textzeugen des Jubiläenbuches gelten und nahe an dessen Entstehung zurückreichen sowie der einzig erhaltene lateinische Textzeuge beachtet und miteinander sowie mit der maßgeblichen Edition von James VanderKam (1989) verglichen. Dadurch ist eine bessere Einschätzung des Textes der Manuskripte und ihrer Eigenheiten ermöglicht worden und es sind zahlreiche neue Lesarten zu Tage getreten. Die Ergebnisse der Edition fließen auch in die Interpretation des Kapitels zum Jubiläenbuch in der Dissertation ein und stehen dabei für die produktive Verbindung von philologischen und interpretativen Fragestellungen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Doktorarbeit durch die Behandlung von unterschiedlichen Texten aus vielfältigen kulturellen Milieus des frühen Judentums eine für die neutestamentliche Forschung erweiternde Perspektive auf die Frage nach der galatischen Auseinandersetzung bieten kann. Die Argumentation des Galaterbriefs wird so innerhalb des frühjüdischen Diskurses um Abraham situiert, und Paulus wird somit als das erkannt, was er war: ein Jude im 1. Jh. n.Chr.