Internationales Doktorandenkolleg Philologie
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Dissertationsprojekt Bastian Jürgen Wagner

Ista Erasmi loquacitate nihil nobis opus erat: Der Dialogus, De Imitatione Ciceroniana Étienne Dolets (1535) im Spannungsfeld von humanistischer Selbstdarstellung und frühneuzeitlicher Abgrenzungspolitik


Arbeitshypothesen:

Mit dem Dialogus, De Imitatione Ciceroniana, adversus Desiderium Erasmum, pro Christophoro Longolio (1535) will der französische Humanist Étienne Dolet (1508‒1546) erstmalssystematisch einen französischen Nationendiskurs anstoßen. Als Schlüsseltext humanistischer Selbst- und Gemeinschaftsautorisierung ist der Dialog ein Beispiel für das diffizile Spannungsfeld politischer Patronageverhältnisse des Humanismus um 1530. Sein dezidiert herabwürdigender Duktus erlaubt seinem Autor, sich im Überbietungswettbewerb zwischen Neulatein und Vernakularsprachen für letztere und damit für eine neue Art humanistischer Philologie zu entscheiden.


Projektbeschreibung:

Bereits die gegenläufigen Titelzusätze adversus Desiderium Erasmum Roterodamum und pro Christophoro Longolio suggerieren zwei Arten von Humanismus. Sie sind symptomatisch für die Schlüsselstellung Dolets zwischen frühneuzeitlichem Klassizismus etwa eines Erasmus (antiqui) und produktiver Überwindung desselben durch jüngere Humanistengenerationen (moderni): Denn die in Dolets Text ‒ auf Latein ‒ verargumentierte Disqualifizierung des Dialogs Ciceronianus sive De optimo genere dicendi (1528) Erasmus von Rotterdams als unangemessen (ineptum) ermöglicht ihm zwar formal die effektive Eingliederung seiner Person in die Diskurse der zeitgenössischen respublica litteraria. Inhaltlich jedoch weist ihn die Fürsprache für den französischen Humanisten Christophe de Longueil zugleich als Angehörigen einer jüngeren, in Italien ausgebildeten und in statu nascendi befindlichen französischen Gelehrtengemeinschaft aus, die sich dem erasmischen Entwurf einer lateinisch-sprechenden Gemeinschaft aller Christen widersetzt und einen renovatio-Prozess der klassischen Antike auf französischem Boden in Gang setzen möchte.
In meinem Projekt möchte ich zum einen Dolets Dialogus als den Beginn einer neuen Philologie, einer vernakularen Tendenz des Humanismus interpretieren, die erst die Pléiade um 1549 programmatisch festschreiben wird. Zum anderen ist der Dialogus in einer Zusammenschau mit Pietro Bembos Prose della volgar lingua (1525) und dem von Erasmus im Ciceronianus vorgeschlagenen integrativen europäischen Christenstaat als Auftakt-Dokument eines aufkommenden humanistischen Nationalismus französischer Prägung zu untersuchen, der sich der lateinischen Sprache nur noch als Vehikel bedient und diese mittels invektivem Sprachduktus überwindet.
Ista Erasmi loquacitate nihil nobis opus erat („Dieses Geschwafel von Erasmus hat uns noch nie etwas genützt“): Der Dialogus Dolets greift Erasmus persönlich an und wertet den Inhalt des Ciceronianus ausgehend von beißender Polemik ad hominem ab. Indem sich damit in dem Text persönliche, gesellschaftliche und invektive Komponenten überlagern, soll er zudem auf Interpretationsspielräume hinsichtlich sprachlich abgebildeter In- und Exklusionsprozesse des frühneuzeitlichen Nationendiskurses untersucht werden ‒ auch diesen Diskurs führt Dolet unter Rückgriff auf das ciceronische apte loqui, das sich damit als philologisches Argumentationsmuster frühneuzeitlicher Gelehrtendiskurse erweisen kann.


Schlagwörter:

Angemessenheit, Ciceronianismus, frühneuzeitlicher Nationendiskurs, self- und community-fashioning, Invektivität

Betreuer: Prof. Dr. Gernot Müller (Universität Bonn)