Internationales Doktorandenkolleg Philologie
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Dissertationsprojekt Luis Schäfer

Eigen gedicht wer mir zeschwer / Latin zetútschen ist min ger. Übersetzen als philologische und kulturelle Praxis am Beispiel des Apolloniusromans


Fach: Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters
Betreuer/innen: Prof. Dr. Beate Kellner (LMU), Prof. Dr. Claudia Wiener (LMU)

Übersetzungen stellen das Produkt einer genuin philologischen Praktik dar: Sie fußen auf einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Ausgangstexten, greifen dabei einerseits auf eine spezifische Überlieferungstradition zurück und schreiben diese andererseits fort. Dabei wohnt einer Übersetzung nicht nur ein sprachlich-philologisches Moment inne, sondern sie beinhaltet auch einen kulturellen Translationsprozess: Inwiefern werden Elemente älterer Texte als fremd wahrgenommen? Werden kulturelle Codes innerhalb des Prätextes kommentiert, getilgt oder durch Praktiken der eigenen Kultur ersetzt?
In diesem Spannungsfeld sollen die Übersetzungspraktiken und -konzepte der mittel- und frühneuhochdeutschen Apolloniusromane analysiert werden: Im Einzelnen sind dies Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland (um 1300) und Johannes Grundemanns ‚Leipziger‘ Apollonius (um 1465), die auf unterschiedlichen Fassungen der Historia Apollonii Regis Tyri basieren, sowie Heinrich Steinhöwels Apollonius (um 1460), der Gottfrieds von Viterbo Pantheon und die Gesta Romanorum als Vorlagen nutzt. Im Vergleich mit den lateinischen Prätexten sollen die Inszenierung der Erzähler als Übersetzer sowie die Rahmung der Handlung und der Umgang mit Handlungsstrukturelementen untersucht werden. Neben dieser Analyse des Umgangs mit dem Ausgangstext auf Makroebene sollen die Übersetzungspraktiken auf Mikroebene nachvollzogen werden: Wie werden die spätantiken Texte an die Erzählkonventionen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit angepasst und wie wird dabei mit kulturellen Codes verfahren?
Für den Ansatz der Dissertation sind gerade im Falle von Heinrich von Neustadt und Johannes Grundemann Vorarbeiten am handschriftlichen Material von Nöten: Die konkrete Fassung der Historia Apollonii Regis Tyri, die Heinrich von Neustadt als Vorlage nutzte, war bislang nicht identifiziert. Die neuerliche Sichtung und Auswertung von Handschriften führte dabei zu einem neuen Vorschlag für einen Vergleichstext; von diesem ausgehend können Heinrichs Übersetzungspraktiken nun erstmals ausführlicher beschrieben werden. Da Johannes Grundemann nachweislich den sog. ‚Leipziger‘ Apollonius direkt in den uns überlieferten Textzeugen übersetzte, lassen sich hier zudem über die Analyse der Handschrift (z.B. hinsichtlich (Unter-)Streichungen, Reformulierungen, Ergänzungen) weitere Erkenntnisse über dessen Übersetzungspraktik gewinnen.
Bei dem Vergleich zwischen Prätext und Translat sind zunächst Änderungen gegenüber der Vorlage von Bedeutung: Erweiterungen, Kürzungen, Tilgungen, Kommentierungen und Substituierung können einer Glättung von Brüchen in der Erzähllogik, aber auch einer Anpassung an die Lebenswelt und Erzählkonventionen des Mittelalters bzw. der Frühen Neuzeit (‚Mediävalisierung‘, lectio christiana) dienen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Heinrich Steinhöwel seinen Apollonius durch Anschluss an Alexander den Großen in die christliche Heilsgeschichte zu integrieren versucht oder die antiken Tempel den Ritualen christlicher Kirchen folgen lässt. Daneben finden sich Passagen der Verfremdung, etwa wenn Heinrich von Neustadt über Nennung arabischer Titel die Fürsten der Stadt Antiochia orientalisiert. Solche Veränderungen können, wie hier kurz gezeigt, Einsichten in die Strategien und das erzählerische Programm der Autoren gewähren. Daneben sind aber auch Textstellen aufschlussreich, die zwar sprachlich dem Ausgangstext eng folgen, jedoch über eine alternative Rahmung innerhalb des Textes oder durch den neuen historischen Kontext eine andere Bedeutung erlangen. So belässt beispielsweise Heinrich von Neustadt Apollonius’ Anrufung an Neptun im Text, rahmt diese allerdings als christliches Gebet. Heinrich konstruiert so einen Mischglauben zwischen Heiden- und Christentum und schafft den Ausgangspunkt, von dem sich Apollonius zu einem präfigurativen Heiland entwickeln kann.
Nicht nur durch besagte philologische Grundlagenforschung am überlieferten Material möchte die Arbeit neue Impulse setzen, sondern auch dadurch, dass Praktiken der Übersetzung – Schnittpunkt von Literaturwissenschaft, Linguistik und Kulturwissenschaft – neu beleuchtet werden. Dabei wird ein Bogen von der Methodik der älteren Philologie zu modernen Ansätzen der mediävistischen Literatur- und Übersetzungsforschung gespannt. Indem derart interlinguale und interkulturelle Translationsprozesse untersucht werden, wird die Arbeit insgesamt auch für benachbarte Fächer anschlussfähig.